Kennen Sie das … ?

Sie wohnen ganz oben, vierter Stock. Sie bringen den Müll nach unten. Das Licht im Treppenhaus erlicht. Sie fluchen. Der Müllsack in Ihrer Hand wird leichter, der Müll verteilt sich auf den Treppenstufen. Im Laufschritt können Sie nicht bremsen, rutschen auf dem Schmodder aus, fallen unglücklich, rutschen eine Etage nach unten und bleiben unbeweglich liegen. Tage später wachen Sie mit mehreren komplizierten Brüchen im Krankenhaus auf, wissen wenig und grinsen die Krankenschwester grenzdebil an, das Essen ist schrecklich und Sie hassen sich dafür, dass Sie es hungrig verschlingen. Wochen später finden Sie einen Zettel an Ihrer Tür, dass doch bitte der Müll im Hausflur selbst entfernen zu sei, halbironisch auf englisch geschrieben, als wären Sie so ein ignoranter Tourist. Sie beginnen Ihre Nachbarn zu hassen, den Kiez, in den Sie vor kurzem mit viel Enthusiasmus gezogen sind, in eine Eigentumswohnung zwar, aber gentrifiziert haben schon ganz andere vor Ihnen, das lassen Sie sich nicht vorwerfen. Ihre Freunde haben Sie bemittleidet für diese Gegend, Ihr Partner hat Sie deswegen verlassen. Sie haben das durchgezogen, weil Sie an das Gute geglaubt haben und jetzt stehen Sie vor dem Scherbenhaufen Ihrer Existenz, ernähren sich von Fertigem ohne Bio weil Sie mit Ihrer Gehhilfe nur noch bis zum Discounter kommen. Werden zugetextet von den Rentnern, weil Sie nicht so schnell entwischen können und versinken in Selbstmitleid, Selbsthass. Alte Weggefährten, Freunde, Migranten und solche, die so aussehen, verachten Sie, ungeachtet Ihrer hehren Ansätze, als Sie hier einzogen. Ein böses Wort gibt das andere und sie verbittern, Mitte dreißig sind Sie ein Wrack, abgeschottet, verschuldet, unbrauchbar. Und Sie beginnen zu begreifen, dass diese Gesellschaft, deren Teil Sie sich vor kurzem zu sein wähnten, sie abgehängt hat. Kennen Sie das?

Klicktipps zu Rainer Mausfeld

Hinweis: das mit den Lämmern hatten wir schonmal, aber das war jemand anderes (Rüdiger Lenz).

In eine ähnliche Kerbe schlägt Mausfeld, dessen unaufgeregte Art ich dem üblichen Krakeelen von Verschwörern vorziehe:

  • Video: Rainer Mausfeld: „Warum schweigen die Lämmer?“ – Techniken des Meinungs- und Empörungsmanagements – https://www.youtube.com/watch?v=Rx5SZrOsb6M (Veröffentlicht am 28.06.2015)
  • NachDenkSeiten vom 05.08.2016: Die Links-Rechts-Demagogie. Ein Interview mit Rainer Mausfeld.

    Die lange Geschichte des linken Projektes stellt uns klar formulierte gesellschaftliche Leitideale bereit, und es gibt keine stichhaltigen Gründe, dass eine Annäherung an diese Leitideale außerhalb dessen läge, was dem Menschen aufgrund der Beschaffenheit seines Geistes möglich ist. Wenn wir uns diese Leitideale und Zielvorstellungen wieder stärker in Erinnerung rufen, können sie uns wieder Hoffnung geben, dass die Dinge änderbar sind und auch wieder stärker die Begeisterung und Leidenschaft auslösen, die nötig ist, um beständig für ihr Erreichen zu kämpfen. Die vorrangige Aufgabe sehe ich dabei darin, die mittlerweile verheerende gesellschaftliche Fragmentierung und die mit ihr einhergehende politische Lethargie zu überwinden und aufzuzeigen, dass es gangbare Wege gibt, die vom jetzigen Zustand zu einem wünschenswerteren gesellschaftlichen Zustand führen können.

  • Video: KenFM im Gespräch mit: Prof. Rainer Mausfeld – https://www.youtube.com/watch?v=OwRNpeWj5Cs (Veröffentlicht am 05.08.2016)

mittelstandsmittleidsgejammer

alles ist nur noch hysterie. es wird geschrien und geblökt, als wäre immerzu jahrmarkt. als stünden wir permanent auf dem marktplatz. ich bin so müde und kann es nicht mehr hören. spaßbefreite provokationen von rechtsaußen (afd, trump, isis), reflexhafte empörung von links, gegenreaktion, meinung, sondersendung. es geht immer nur um aufmerksmkeit, likes, shares, gruschel. die gesellschaft wurde wie facebook, anstatt die philosophie von freien und neutralen netzen zu verinnerlichen, hat man sich der aufmerksamkeitkeitsökonomie einer facebook-pinnwand angenähert: wer am lautesten schreit, wird auch gehört. zwischentöne eliminiert der algorithmus. vielleicht wäre es wirklich besser, eine schlaue KI übernehme die politischen entscheidungen, ohne beeinflussung durch die massen. verstehen sie mich nicht falsch, mir geht es nicht um die gute alte zeit. ich finde nur, wir haben ganz schön verkackt mit unseren chancen auf eine offene und zivile gesellschaft.

Johann Wolfgang von Goethe: Faust: Eine Tragödie – Kapitel 5: Vor dem Tor

Andrer Bürger:

Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.

Dritter Bürger:

Herr Nachbar, ja! so laß ich’s auch geschehn:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.