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Drach

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Nach Morphin (2012) und Der Boxer (2017) nun das dritte Buch von Twardoch. Es spielen in jedem seiner Büchern Männer die Hauptrolle, gebrochene Helden mit übler Vergangenheit. Frauen gibts nur am Rande und dann meist als unglückliche Ehefrauen, Prostituierte oder gewiefte Strippenzieherinnen oder alles zusammen. Das mag nicht jeder, daher stehts ganz vorn.

Drach ist – wenn ich es richtig verstanden habe – die Erde, alles Leben und Vergehen und Vergangenheit und Zukunft. Woanders heißt das Gott, hier ists der Erzähler. Es wird viel gestorben und geboren, und dazwischen ist die Erde, eben Drach.

Erzählt werden die Geschichten der Einwohner eines Dorfes in Oberschlesien nahe Katowice, nahe der längst nicht mehr existierenden Grenze zwischen Polen und Deutschland. Mehrere Generationen tauchen auf und vergehen. Den Anfang macht die Generation der Männer im Ersten Weltkrieg und für den Leser wirds anstrengend wie bei Remarque. Dann wird die Nachkriegszeit erzählt, in Polen dauerten die Kämpfe wesentlich länger und es gab blutige Aufstände. Alles danach resultierte aus dieser Zeit. Bis hin zu Nikodem, dem verwöhnten Architekten in der heutigen Zeit.

Es gibt keine Chronologie in der Erzählung, alles passiert gleichzeitig. Das sind die Buddenbrooks auf Speed, mit mehr Abgründen und tragischen Familiendramen. Lakonisch fast die Einschläge des Zweiten Weltkriegs inklusive Verfolgung und KZ.

Es sind typische Biographien für das 20. Jahrhundert, in ihrem Detailgrad aber besonders. Der Leser kann nicht sympathisieren, es gibt keine Helden, es gibt nur Verlierer.

Gesprochen wird schlesisch. Für den deutschen Leser wurde vom Übersetzer Olaf Kühl das Niederschlesische gewählt. Seltsam vertraut und doch fremd. Und man ahnt, dass es abseits vom Nationalstaat noch mehr Identitäten gibt, wir sollten nur genauer hinschauen.

Lesen Sie dieses Buch, wenn Sie jüngere polnische Geschichte verstehen wollen oder gut erzählte verschachtelte Storys mögen. Wenn Sie Europa im Kleinen begreifen wollen. Denn auch wenn es spezifisch in einer Region spielt, hat es sich doch millionenfach überall ähnlich auf diesem Kontinent in den letzten hundert Jahren so abgespielt.

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Quiz

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Mein erstes Buch, das ich auf mojoreads gelesen habe – im Zug auf dem Smartphone zwischen Magdeburg und Berlin und zurück.

Oberflächlich ist es eine Medienkritik, die in nicht allzu ferner Zukunft spielt. Eine neue Quizshow wird entwickelt. Ein ehemaliger Webdesigner wird zu einem Quizshow-Kandidaten. Ein Rentner sucht sich selbst. Eine Journalistin wird Moderatorin. Jeder scheitert, ist gescheitert, oder wird scheitern. Jeder hat seine hellen Momente, manche gewinnen, manche verlieren.
Die Story ist irre, die Charaktere sind noch irrer. Die Sätze sind präzise und allesamt zitierfähig, es sind Wahrheiten über die Geißel unserer Zeit. Schnelllebige hingerotzte Dialoge neben Phrasen neben tiefen Wahrheiten. Der Leser ist hin- und hergerissen zwischen Hintergründigem und Plattem. Ein Buch wie ein Meetingalltag in einem Bullshitjob, ständig wechseln die Prioritäten und Aufmerksamkeiten. Es ist ätzend, keine schöngeistige Literatur, sondern Wahnsinn, ein Spiegel den uns der Autor vorhält, wir gieren nach Zusammenhängen, wo keine sind und Tiefgründigem im Oberflächlichen und wieder zurück. Wie in einem Jahrmarktskarussell, nur schneller. Das Ende ist überraschend und unerwartet, die Charaktere verhalten sich irrational.
Mich lässt die Lektüre ratlos zurück aber ich kann es bedingungslos weiter empfehlen, weil es so schwer einzuordnen ist.

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Der totale Rausch: Drogen im Dritten Reich

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Ein wichtiges Buch zu einem Thema, das bisher wenig diskutiert wurde. Systematischer Drogenmissbrauch in Gesellschaft, Wehrmacht und beim Führer kratzen am Mythos des arischen und gesunden Volkskörpers.
Ob Überfall auf Polen, “Blitzkrieg” gegen Frankreich, Stalingrad – der Autor spricht von flächendeckendem Meth-Konsum bei den Soldaten, in Form des Präparats Pervitin der Berliner Temmler-Werke. Also das gleiche Zeug, was heute als Crystal Meth traurige Berühmtheit genießt: Hält dich wach und du überschätzt dich – ideal für einen Angriffskrieg.
Dann wird die zweifelhafte Rolle des Theo Morell beleuchtet, der Leibarzt Hitlers und anderer Nazigrößen. Immer wieder gab es Spritzen gegen alle möglichen Wehwehchen, bis hin zu Eukodal (Oxycodon), einem heute noch beliebten Schmerzmittel und Kokain. Ob Hitler tatsächlich süchtig war und in den letzten Monaten unter Entzugserscheinungen litt ist höchst umstritten (siehe unten verlinkte Rezensionen) – verabreicht wurde es, zusammen mit allerlei anderem zwielichtigem Zeug.
Ein weiteres Kapitel schließlich beschäftigt sich mit Drogenexperimenten in Marine und KZ, die nach dem Krieg auch in den USA und anderswo weiter geführt wurden.
Auch wenn die Erzählweise für ein Sachbuch zu reißerisch ist und die Grenze von Drogen, aufputschenden Mitteln und Nahrungsergänzungsmitteln früher eher fließend war – die Geschichte sollte erzählt werden. Keinesfalls – und das macht Ohler deutlich – soll es eine Erklärung oder gar Entschuldigung für die irren Entscheidungen und Handlungen der Nazis sein. Sie haben bewusst die Mittel verabreicht, um ihre Pläne durchzusetzen, um die Wehmacht aufzuputschen. Die Pläne jedoch entstanden schon vorher bei klarem Bewusstsein.
Das Buch habe ich in zwei Tagen verschlungen, aber ein bisschen Kontext benötigt man schon, um das einzuordnen.

zur Einordnung:

  • Hier ein Interview mit dem Autor von 2015.
  • Martin Doerry hat in DER SPIEGEL 37/2015 starke Zweifel an den Thesen
  • die SZ ordnet das Buch anders ein (€€€)
  • die WELT kann die Welt nicht mehr verstehen
  • DIE ZEIT hat auch ihre Zweifel