Notizen vom Stammtisch #2

Gewalt löst keine Probleme. Doch ohne Protest verspüren die Regierenden auch keinen Handlungsbedarf. Es ist das alte Dilemma und es scheint nahezu unlösbar. Und auch wenn es der Protestforscher in kluge Worte fasst, das Problem bleibt:

An Wut mangelt es nicht. Zu Hause, am Stammtisch, in der Mittagspause auf der Arbeit – da schimpfen die Menschen. Der moralische Kredit der Wirtschaftseliten ist verspielt, niemand glaubt diesen Leuten mehr irgendetwas. […] Protestbewegungen sind Teil einer demokratischen Kultur, durch die sich ausgegrenzte Interessen immer wieder Gehör verschaffen. Aktuell droht aber eher eine Erosionskrise. Dazu gehören vielfältige Ausgrenzungserfahrungen: auf dem Arbeitsmarkt, in abgehängten Regionen, in einer verfallenden öffentlichen Infrastruktur. Hierzulande wenden die Menschen solche Erfahrungen aber eher gegen sich selbst – etwa in Depressionen, Sucht oder Suizid. Wir erleben einen Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts – keine Explosion, sondern eine Implosion. (taz)

Kein Ausweg, nirgends. Und nun ist auch die Party in Kreuzberg vorbei und die BSR räumt die Scherben auf. Was wir brauchen, ist aber eine Strukturänderung. Denn es kann nicht sein, dass die alten Männer, die nachweislich für die Krise verantwortlich sind, damit so einfach durchkommen. Und doch wird allgemein so getan, als wär nichts gewesen und so weitergemacht wie bisher.

Das eigentlich erschreckende ist doch, dass wir diese Krise überhaupt nicht spüren. Es gibt sie und alle reden darüber, doch sie ist nicht greifbar. Das Leben geht weiter wie zuvor. Die Bahnen fahren, Geld abheben ist möglich und die Preise sind auch noch nicht gestiegen. Sicher, Kurzarbeit in den Unternehmen, Auftragseinbrüche, steigende Arbeitslosigkeit, Minijobs werden knapp – alles Zeichen für den drohenden Untergang? Oder Zeichen dafür, wie Unternehmen auf entsprechende Pressemeldungen reagieren, so genannte Self-Fulfilling-Prophecy-Effekte? Alles heißer Dampf? Wenn aber doch nicht: Wer trägt die Verantwortung und wer zahlt dafür?

“Wir zahlen nicht für Eure Krise!” hieß es vor ein paar Wochen auf den Demos in Berlin und Frankfurt. Doch ich befürchte, dass wir zahlen müssen. Alle, ohne Ausnahmen und alle zukünftigen Generationen bis in alle Ewigkeiten, Amen. Denn die Rettungspakete und die abgewrackten Autos wollen finanziert werden. Teuer, mit Schulden. Da gibt es keine Alternative. Können wir uns überhaupt noch leisten, eine Wahl zu haben? Oder ist dies der Anfang vom Ende des Kapitalismus, wie einige behaupten? Wie kam es eigentlich dazu, dass alle von Krise sprechen?

Lange vor dem Internet bereits haben sich in der Finanzbranche virtuelle Märkte etabliert, die mit ihren Vorgängern nicht mehr viel gemeinsam haben. Es wird gehandelt mit Werten, die real gar nicht existieren. Mit Optionen auf Tatsachen, deren Eintreten von dem Handel mit diesen Optionen beeinflußt wird. Wann fing das alles an? Ich habe keine Ahnung und bin beileibe kein Finanzmarktexperte. Doch spätestens nach der Asienkrise, nach dem Platzen der Internet-Blase vor ein paar Jahren hätte man es wissen müssen. Damals schon hätte man nach ebenjenen Regulationsinstrumenten schreien müssen, die Heute diskutiert aber doch verpuffen werden. Weil alles nur so halbherzig angegangen wird, dass man sich nur wundern kann, dass überhaupt noch irgend etwas funktioniert.

Müssen wir Angst haben? Ich weiß es nicht. Niemand weiß das. Vorsichtshalber lenken wir uns lieber ab mit der Schweinegrippe und schieben Panik, wenn der Nachbar mal wieder Schaum vorm Mund hat. Natürlich wird unser Leben weiter gehen. Nur wahrscheinlich auf einem niedrigeren Niveau. Und das wurde sowieso mal Zeit. Die Wikipedia meint dazu lapidar:

Die Grenze des beschränkten Wachstums kann abrupt oder durch Sättigung asymptotisch erreicht werden. (wikipedia)

Ziemlich schnell müssen wir uns also entscheiden, wie wir in Zukunft leben wollen. Ob dann noch der unterfinanzierte Plasma-TV im Wohnzimmer stehen wird, bleibt fraglich.

Die BSR jedenfalls wird morgen die letzten Spuren des Protestes von den Straßen kehren, somit sichern die Systemkritiker wenigstens Arbeitsplätze in einem System, das sie eigentlich bekämpfen. Und man kann diesen (scheinbaren) Widerspruch gar nicht oft genug wiederholen. Oder, auf einer anderen Ebene: Wen sollen Punks anschnorren, wenn alle das punkige Lebensgefühl angenommen haben?

Es bleibt verzwickt, aber denken hilft. Auch in einer schweinekrisigen und finanzverseuchten Welt, machen wir das Beste draus.

Realitätsverlust

Gestern in der Regionalbahn der Grausamkeiten: Hinter mir eine Horde bayerischer Punks, auf dem Weg in die Punkhauptstadt Berlin. Mit Kasettenrekorder und passender Musik. Neben mir ein Freak, der ständig seinen Rubikwürfel löst und immer wieder neu verdreht. Und dazu Sven Regeners kleiner Bruder, in dem Frank nicht den Unterschied zwischen Hippies und Punks erkennt oder erkennen will. Der Bahnhofskiosk in der kleinen Stadt hatte geschlossen und so saß ich ohne Bier im Zug. Die Punks hatten natürlich welches und Frank und seine neuen Freunde trinken auch ständig. Schultheiss zwar, aber was solls. Irgendwann kam dann ein Punk an und schnorrte Zigaretten. Blieb beim Rubik-Freak stehen und starrte zehn Minuten auf dessen Zauberkünste. Derweil schleppen Frank und Karl den Dr. Votz-Bassisten Martin durch das nächtliche Kreuzberg. Die Punks stiegen dann am Südkreuz aus, wobei sie den Zug geschlagene drei Minuten aufhielten, weil sie es verpeilt hatten. Einer von ihnen musste heute zur Schuldnerberatung, ob er es geschafft hat mit dem Aufstehen? Wir wissen es nicht. Der Rubikwürfel ist sicher schon wieder gelöst und in Kreuzberg dämmert es bereits…

berlins burning…

was ist da los? im twitterdings stapeln sich die bilder und die meldungen über gigantischen rauch in deutschlands berlinigster hauptstadt. doch keiner weiß mehr. nicht mal das internet. sowas!

im wedding ist nüscht zu sehen.

[UPDATE:] springer hats zuerst: Großbrand in Kreuzberger Papierlager // tagesspiegel: Großbrand in Kreuzberg

[UPDATE2:]

The Hitchhiker’s Guide to the Strike

die bvg bereitet sich intensiv auf die zeit nach dem streik vor, wie aus einem uns vorligenden internen papier hervorgeht. darin heißt es unter anderem, dass eine große relaunch-kampagne geplant ist. denn die autoren gehen davon aus, dass nach dem streikende keiner mehr die drei buchstaben kennt und die farbkombination blau-gelb mit einer drittklassigen partei assoziiert. auszüge aus dem papier:

[…]

es wird von eltern berichtet, die ihren kindern mit tränen in den augen von sonnenblumengelben u-bahnen erzählen. liebevoll motzen sich migrantenkinder mit dem satz an: “MIT DEM FAHRRAD NICH IN™ ERSTEN WAGN™!!!” (vgl. dazu KRÖMER, Kurt et al.). die unfreiwilligen moabiter basteln straßenbahnen aus pappe in originalgröße. windige geschäftsleute bieten original berliner bus-hintergrundgeräusche auf cd an, dabei kommt raus, dass die aufnahmen in tübingen entstanden sind. hertha trat beim letzten heimspiel in bvg-uniformen an. und das technikmuseum in kreuzberg berichtet, dass mehrere historische nahverkehrszüge geklaut wurden. wowereit, einst lieblingsklaus der hauptstädter, bombt sich in die herzen zurück und verkündet heute den neuen slogan der berlin-kampagne der marketing-gesellschaft berlin partner: “be-vg berlin”. […]

[…]

wir gehen davon aus, dass sich die situation noch verstärken wird. unsere ersatzbusse und -fahrer aus bayern werden berlinweit boykottiert, alle fahren s-bahn und fahrrad. keiner erinnert sich mehr an die u-bahn und die schienen der trams wurden von ganoven abmontiert und nach china verkauft. derzeit schulen wir neues personal, dass die fahrgäste im falle eines ende des streiks einweisen wird. da viele vermutlich nicht mehr wissen, wie der öffentliche nahverkehr funktioniert. wir bereiten radiospots mit der ansage vor: “Bitte beachten Sie die Lücke zwischen Zug und Bahnsteigkante”, an kindergärten werden essbare liniennetzpläne verteilt. […]

geschichten aus einer viel zu großen stadt pt. 11

da fährt also der herr wagner von der großen qualitätszeitung mit der verehrten frau justizministerin brigitte zypries u-bahn in berlin und ihnen passiert nichts! was für eine ausnahme. treiben sich doch da die wildesten typen rum, da, unter der erde. der arme herr wagner musste todesängste ausgestanden haben (link, via c.):

Ich stelle mir vor, wie ich blutüberströmt zu der Notrufsäule krieche und den untersten Knopf erreiche.

phantasie hat er ja. und nerven wie stahl. und ehrlich ist er:

Unter der Erde Berlins herrscht ein anderes Leben. Es ist nicht mein Leben.

frau zypries redet wirr, am ende rauchen sie noch eine (wahrscheinlich auf dem bahnsteig, 15€ Strafe, herr wagner!), knutschen rum und verabreden sich. da bahnt sich was an. ich sags euch. und jetzt zeig ich euch, was den herrn wagner ganz bleich werden ließ:

die pixelroiber fahren u5 (und müssen sich fest halten)

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